Jasmin Abt, stud. jur. Universität Konstanz | Strafrecht

Der ne bis in idem-Grundsatz

Der in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte lateinische Grundsatz „ne bis in idem“ gilt bereits seit der Antike und besagt, dass niemand wegen derselben prozessualen Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf.

Er normiert dabei sowohl ein Doppelbestrafungsverbot als auch, über den Wortlaut hinaus, ein Verbot der Wiederaufnahme eines Verfahrens, wenn dahingehend bereits ein rechtskräftiges Sachurteil vorliegt (sogenannter Strafklageverbrauch).[1]

Unabhängig davon, ob es sich hierbei um ein Urteil oder einen Freispruch handelt, begründet er damit im Umkehrschluss ein subjektives Recht des Einzelnen.[2]

 

Ausnahmen des Grundsatzes sind in § 362 StPO geregelt. Unter bestimmten, engen Voraussetzungen ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Beschuldigten möglich. Dies ist rechtlich zwar nicht unbedenklich, wurde vom Bundesverfassungsgericht jedoch gebilligt.[3]

Zu Gunsten des Beschuldigten ist eine Wiederaufnahme hingegen unproblematisch möglich, vgl. beispielsweise § 359 StPO, denn der Schutzzweck des verfassungsrechtlichen Grundsatzes ist klar: Er soll allein den Beschuldigten vor Doppelbestrafung und Doppelverfolgung schützen und damit den Gerichten ein entsprechendes Befassungsverbot auferlegen.

 

Problemaufriss

Dies kann jedoch zu teils unbefriedigenden Ergebnissen führen, insbesondere wenn es sich dabei um die schwersten Straftaten handelt, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden und unverjährbar sind.

Auf Grund dessen gibt es zwischenzeitlich neue Entwicklungen hinsichtlich des ne bis in idem-Grundsatzes. Im Laufe der letzten zehn Jahre wurden vermehrt Stimmen laut, die sich für das Bedürfnis eines weiteren Ausnahmetatbestandes des § 362 StPO aussprachen.[4]

Ausgangspunkt dieser Situation bildet die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Möglichkeiten im Rahmen der Findung von nachträglichen Beweismitteln und Tatsachen durch DNA-Analysen. In diesem Rahmen wurden mehrere Fälle bekannt, in denen beispielsweise nach dem Freispruch eine, den eindeutigen Beweis liefernde, DNA-Analyse auftauchte, die auf Grund des fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisstands zum Zeitpunkt des Freispruchs nicht berücksichtigt werden konnte.

Das Urteil kann dann nicht mehr korrigiert werden. [5]

 

Solche Ereignisse erregen selbstverständlich Aufmerksamkeit und sind für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar, wenn nicht sogar als völlig abwegig abgestempelt. Verfassungsrechtliche lateinische Grundsätze, die seit der Antike gelten und dafür sorgen, dass ein Mörder frei herumläuft? Für die Öffentlichkeit: Unfassbar.

 

„Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“

Diese Stimmen sind nun auch den Fraktionen der CDU/CSU und SDP zu Ohren gekommen: Im Blick hatten die Rechtspolitiker der Parteien wohl vor allem den Fall eines ermordeten Mädchens, dessen Vater einen freigesprochenen Mann für den Täter hielt.[6]

Die Verurteilung wurde jedoch unter Hinweis auf den in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten ne bis in idem-Grundsatz verweigert.[7]

 

Der Deutsche Bundestag hat nun zum Ende der aktuellen Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzesentwurf, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 der Strafprozessordnung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit), verabschiedet.[8] Diesen hat der Bundesrat durch Verzicht auf ein Vermittlungsverfahren, entgegen der Hoffnung vieler Anwälte, Rechtspolitiker und Wissenschaftler, ebenso gebilligt.[9]

„Ziel des Entwurfs ist es, unter Abwägung zwischen den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und des Bedürfnisses nach Rechtssicherheit, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten eines freigesprochenen Angeklagten auch dann zu ermöglichen, wenn neue Tatsachen oder Beweise beigebracht werden, die dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird. Ein Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils stellt in diesen Fällen einen unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß dar. Durch die Änderung wird der Kerngehalt des Art. 103 Abs. 3 GG nicht tangiert, da zum einen der Anwendungsbereich der Neureglung auf jenen klar abgrenzbaren und engen Kreis schwerster Straftaten beschränkt bleibt, für den das geltende Recht keine Verjährung vorsieht, und zudem nicht alle neue Tatsachen und Beweismittel geeignet sind, die Rechtskraft aufzuheben, sondern nur solche, die eine besonders hohe Beweiskraft haben. Damit schreibt die Neuregelung Gedanken fort, die bereits jetzt im geltenden Recht, namentlich in § 362 Nummer 4 StPO, angelegt sind.“[10]

 

Folgende Nummer 5 soll in diesem Rahmen angefügt werden:

„5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.“[11]

 

 

Kritik

Die Argumentation des Gesetzgebers beschränkt sich im Rahmen der Begründung zur Zielsetzung und Notwendigkeit des Gesetzes im Wesentlichen auf zwei Gesichtspunkte: Unerträgliche Gerechtigkeitsverstöße müssen materieller Gerechtigkeit weichen oder anders: Materielle Gerechtigkeit dient zukünftig der Überwindung von Unerträglichkeit.[12]

Doch was ist unerträglich und was ist gerecht? Grundsätzlich obliegt es der Legislative zu entscheiden, was gerecht ist und was nicht. Vorliegend erwächst jedoch ein Problem daraus, dass es zu einer Vermischung von Gerechtigkeit und Recht kommt, was zu subjektiven, emotionsgeladenen Diskussionen und Rechtsunsicherheiten führt.[13]

Das Berufen auf die anscheinend bis dato „unerträgliche“ Rechtslage wirft die Frage auf, wem zukünftig die Entscheidung obliegt, was unerträglich ist und unter welchen Gesichtspunkten dies zu beurteilen ist.

Auch das Berufen auf die mangelnde „materielle Gerechtigkeit“ erweckt den Eindruck, die Vergangenheit sei von einer „materiellen Ungerechtigkeit“ geprägt.[14]

 

Aus diesem Grund erfährt der Gesetzesentwurf vermehrt Kritik.

Es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Kerngehalt des Art. 103 Abs. 3 GG durch die Ausnahmeergänzung, entgegen der Ausführungen zur Zielsetzung und Notwendigkeit des Gesetzes, tatsächlich nicht tangiert wird. Vielmehr scheint hier eine verfassungswidrige Aushöhlung des ne bis in idem-Grundsatzes in Betracht zu kommen.

 

Es ist zunächst nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage ein derartiges Gesetz ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt notwendig geworden ist. Die Wissenschaft unterliegt einem stetigen Wandel und neue Erkenntnisse sowie neue Möglichkeiten sind dabei keine Seltenheit. Der „Durchbruch“ hinsichtlich DNA-Analysen, den der Gesetzgeber hier zugrunde legt, ist für den Einzelnen jedenfalls nicht nachvollziehbar.[15]

 

Das BVerfG hat zwar darauf hingewiesen, dass Art. 103 Abs. 3 GG einer Weiterentwicklung grundsätzlich zugänglich sei und einer Gesetzeskorrektur nicht entgegenstehe, diese sei jedoch nur innerhalb des bereits bestehenden Kanons der Wiederaufnahmegründe gestattet.[16]

Hier handelt es sich allerdings um eine völlig neue Ergänzung, die durchaus in gewisser Konkurrenz mit dem in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten ne bis in idem-Grundsatz steht.

Es erscheint sehr fraglich, ob derartige Neuerungen verfassungsrechtlich der Disposition des Gesetzgebers noch unterliegen.

 

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) verneint dies nachdrücklich.[17]

Die verfassungsrechtlichen Grenzen könnten hier nicht korrigiert, sondern vielmehr gesprengt worden sein, so Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV.[18]

"Das Grundgesetz hat sich im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit eindeutig für die Rechtskraft entschieden. […] Art. 103 Abs. 3 verbietet nach allgemeiner Auffassung auch die Doppelverfolgung nach einem Freispruch. Für einen ,Freispruch light' unter dem Vorbehalt späterer besserer Erkenntnis gibt es insofern keinen Raum."[19]

Insbesondere das Recht des Freigesprochenen sowie der durch Art. 103 Abs. 3 GG gewährleistete Vertrauensschutz geht durch die Gesetzesergänzung völlig verloren. Ein Freispruch hat keine besondere Wirkung mehr und an eine normale Eingliederung in die Gesellschaft ist unter ständiger Angst der Wiederaufnahme des Verfahrens gar nicht mehr zu denken.

 

Auch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ist empört über die rasche Entwicklung des Gesetzesentwurfs, der der Kammer nicht zugeleitet worden sei.[20]

Rechtsanwältin Ulrike Paul, Vizepräsidentin der BRAK äußert sich: "Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb nach aller Kritik zur unzureichenden Verbändeanhörung im Rahmen der Krisengesetzgebung nun auch bei Gesetzentwürfen ohne Corona-Bezug an den Rechtsanwendern als Experten, also der Anwaltschaft, vorbei agiert wird. […] Wenn wir schon eine klare Durchbrechung der Rechtskraft umsetzen wollen, dann muss das sorgfältig diskutiert werden. Schnellschüsse bei derart wichtigen Themen halte ich für fatal! Einen provisorischen Freispruch - und nichts anderes liegt hier auf dem Tapet - muss man unter allen rechtlichen, auch verfassungsrechtlichen, Gesichtspunkten prüfen."[21]

 

Zuletzt bestehen außerdem erhebliche Bedenken im Hinblick auf das rechtsstaatliche echte Rückwirkungsverbot, welches eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen verbietet, wenn eine Erweiterung der Wiederaufnahmen auch für in der Vergangenheit liegende und rechtskräftig abgeschlossene Verfahren angenommen wird.[22] Dies wäre unumstößlich verfassungsrechtlich unzulässig, soweit das Vertrauen des Betroffenen schutzwürdig ist, was nur in seltenen Ausnahmefällen anzunehmen ist.[23]

 

Fazit

Die Öffentlichkeit statuiert stets den Wunsch nach Rechtssicherheit. Mit Sicherheit hat eine Durchbrechung verfassungsrechtlicher Grundsätze jedoch herzlich wenig zu tun.

Es entsteht der Eindruck, die Legislative beugt sich hier dem Einfluss der Öffentlichkeit, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie damit der Judikative jegliche Unabhängigkeit und Entscheidungsgewalt nimmt und damit die Gewaltenteilung ins Wanken bringt.[24] Dem Rechtsempfinden der Bevölkerung soll hier auf Kosten desjenigen der Volljuristen Genüge getan werden.

 

Die letzte Hoffnung bleibt damit wohl eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.[25]



[1] Münchener Kommentar zur StPO, Kudlich, Einleitung, Rn. 78.

[2] Ebd.

[3] BVerfG, 17.01.1961 – 2 BvL 17/60.

[4] Letzgus, Klaus: Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten bei neuen Tatsachen und Beweismitteln, NStZ 2020, 717, 717.

[5] Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 der Strafprozessordnung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 08.06.2021.

[6] Redaktion beck-aktuell, Verlag C.H.Beck, 02.09.2021 von Prof. Dr. Joachim Jahn (Mitglied der NJW-Schriftleitung), becklink 2020788.

[7] Ebd.

[8] Schiffbauer, Björn: „Unerträglich“ als valides Argument des Gesetzgebers? – Aktuelle Normsetzung und das Konzept des Rechts, NJW 2021, 2097, 2097.

[9] FD-StrafR 2021, 442067, beck-online; Redaktion beck-aktuell, Verlag C.H.BECK, 02.09.2021 von Prof. Dr. Joachim Jahn (Mitglied der NJW-Schriftleitung), becklink 2020788.

[10] Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 der Strafprozessordnung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 08.06.2021.

[11] Ebd.

[12] Schiffbauer, Björn: „Unerträglich“ als valides Argument des Gesetzgebers? – Aktuelle Normsetzung und das Konzept des Rechts, NJW 2021, 2097, 2098 f.

[13] Schiffbauer, Björn: „Unerträglich“ als valides Argument des Gesetzgebers? – Aktuelle Normsetzung und das Konzept des Rechts, NJW 2021, 2097, 2099.

[14] Ebd.

[15] Frister, Helmut / Müller, Tobias: Reform der Wiederaufnahme in Strafsachen, ZRP 2019, 101, 103.

[16] BVerfG, 08.01.1981 – BvR 873/80.

[17] FD-StrafR 2021, 439907, beck-online.

[18] Ebd.

[19] Redaktion beck-aktuell, C.H.Beck, 26.11.2020, becklink 2018178.

[20] Redaktion beck-aktuell, Verlag C.H.Beck, 04.06.2021, becklink 2019975.

[21] Ebd.

[22] Vgl. Aust, Helmut / Schmidt, Richard: Ne bis in idem und Wiederaufnahme, ZRP 2020, 251, 254.

[23] Ebd.

[24] Schiffbauer, Björn: „Unerträglich“ als valides Argument des Gesetzgebers? – Aktuelle Normsetzung und das Konzept des Rechts, NJW 2021, 2097, 2099.

[25] Redaktion beck-aktuell, Verlag C.H.BECK, 02.09.2021 von Prof. Dr. Joachim Jahn (Mitglied der NJW-Schriftleitung), becklink 2020788; Ruhs, Florian: Aktuelle Reformbestrebungen der Wiederaufnahme in Strafsachen, ZRP 2021, 88, 91.